Der Frage nach dem Einfluss globaler Esskulturen auf Fettleibigkeit bei US-Amerikaner*innen und Europäer*innen ist Melis Kristan im Rahmen der Masterarbeit bei Rainer Haas nachgegangen. Nähere Informationen und Ergebnisse der Studie finden Sie in der Detailansicht.

 

Sind wir übergewichtig durch unsere unterschiedlichen kulturellen Essgewohnheiten?

Einfluss globaler Esskulturen auf Fettleibigkeit bei US-Amerikaner*innen und Europäer*innen

Melis KRISTAN

 

Fettleibigkeit ist nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene ein globales Problem, welches durch externe Treiber wie negative Umwelteinflüsse, die wirtschaftliche Situation, Bildung sowie durch den Einfluss von Marketing und Lebensmitteltechnologie verstärkt wird (Barilla Center for Food and Nutrition, 2012).

Die Fettleibigkeit- und Übergewichtsprävalenz wird jedoch durch die globale Esskultur zusätzlich beeinflusst. Unterschiedliche ernährungsbezogene Lebensstile und Essgewohnheiten können sich auf das Gewicht der Menschen auswirken. Eine Masterarbeit, welche am Institut für Marketing und Innovation an der Universität für Bodenkultur Wien erstellt wurde, untersuchte das gesunde und soziale Essverhalten der US-Amerikaner*innen und Europäer*innen.

Verbrauchersegmente hinsichtlich gesunder Ernährung

Durch die Verknüpfung von bestimmten Lebensmittel mit individuellen und kollektiven Werten, die das Verhalten und den kognitiven Prozess der Konsumenten beeinflussen, wurde der Diskursrahmen für gesunde Ernährung geschaffen (Grunert, Brunso, & Bisp, 1993; Reid, Li, & Bruwer, 2008). Später haben Chrysochou et al. (2010) dieses Modell weiterentwickelt, indem sie zwischen Experimentalismus versus Funktionalismus und Idealismus versus Pragmatismus unterschieden haben. Dieser Ansatz hat zu vier Haupt-Subjektpositionen geführt: die „Gewöhnlichen“, die „Nachsichtigen“, die „Kontrollierten“ und die „Resignierten“.

Basierend auf den vier Subjektpositionen wurden außerdem drei Verbrauchergruppen identifiziert: Die „Idealisten“, welche nachsichtig und kontrolliert sind. Die „Pragmatiker“, welche gewöhnlich und resigniert sind. Und die „Durchschnittlichen“, welche alle vier der oben genannten Subjektpositionen aufweisen (Chrysochou, Askegaard, Grunert, & Kristensen, 2010).

Tischgemeinschaften

Ein weiterer Punkt, der das Essverhalten der Menschen und damit ihr Gewicht beeinflusst, sind Tischgemeinschaften.

Der Forschungsbereich der Tischgemeinschaften, im wissenschaftlichen Kontext und auf Englisch „commensality“, behandelt konzeptuell Menschen, die in Gruppen essen (Fischler, 1988). Obwohl Essen ein instinktives Verhalten ist, neigen Menschen zu verschiedenen sozialen Essensmustern, die in unterschiedlichen Kulturen und Umgebungen variieren. Soziale Gruppen bestehen u.a. aus Ehepartner, Lebenspartner, Freunde, Familienmitglieder, Kollegen oder Klassenkameraden (De Castro, 1997). Dies hat zur Folge, dass Essen nicht nur zur Nahrungsaufnahme dient, sondern auch ein sozialer Akt ist, der Menschen bei Interaktionen, Informationsaustausch und Beziehungsaufbau unterstützt (Fischler, 2011).

Globale Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa

Europäer*innen glauben, dass eine gesunde Ernährung abwechslungsreich und ausgewogen sein muss und aus frischen, schmackhaften sowie natürlichen Lebensmitteln bestehen soll. Sie sind „Pragmatiker“, indem sie beim Essen nicht nur die Ernährung, sondern auch die soziale Komponente, Freude, Geschmack, Frische, Erfahrung und Tradition berücksichtigen. Für sie ist Essen ein öffentliches Ereignis, welches ein breiteres Spektrum an Aktivitäten wie gemeinsames Kochen und Teilen von Essen umfasst (Masson, Debucquet, Fischler, & Merdji, 2016; Rozin, Fischler, Shields, & Masson, 2006).

Im Gegensatz dazu beachten US-Amerikaner*innen in ihrem lebensmittelbezogenen Lebensstil strenge Regeln bei Gesundheit sowie Ernährung und suchen nach den „richtigen“ Informationen. Außerdem sind sie überwiegend „Idealisten“ mit dem Glauben, dass Essen ein individueller Akt, ein Recht und eine persönliche Freiheit ist, die rational, wissenschaftlich und ökonomisch logisch sein soll (Fischler, 2011; Rozin, 2005; Rozin et al., 2006; Sproesser et al., 2019).

Obwohl US-Amerikaner*innen kulturell bedingt mehrheitlich aus funktionalen Gründen essen, sind sie fettleibiger als Franzosen, bei denen Freude, Geschmack und Interaktion wichtiger als funktionale Ernährung beim Essen sind.

Dieser spannende Gegensatz motivierte das Institut für Marketing und Innovation an der Universität für Bodenkultur Wien, das Forschungsfeld weiter zu untersuchen.

Erhebung der Daten

Um die Unterschiede der gesunden sowie der sozialen Essgewohnheiten von amerikanischen und europäischen Individuen und deren Auswirkungen auf Übergewicht und Fettleibigkeit zu untersuchen, wurde in der Masterarbeit eine quantitative Studie mittels eines Online-Fragebogens durchgeführt.

Die Umfrage beantworteten 222 erwachsene Student*innen – 91 Teilnehmer*innen waren US-Amerikaner*innen und 131 waren Europäer*innen. Der Fragebogen bestand einerseits aus Fragen zur gesunden Ernährung, in denen die Befragten in drei Verbrauchergruppen kategorisiert wurden und zum anderen aus Fragen bezüglich sozialen Essens – d.h. Essen in Tischgemeinschaften, Kochgewohnheiten, Essgewohnheiten außerhalb des Hauses und Snacking-Gewohnheiten. Durch die Berechnung des Body-Mass-Index der Teilnehmer*innen wurde die Beziehung zwischen Übergewicht sowie Fettleibigkeit und verschiedenen Essgewohnheiten beobachtet.

Ergebnisse der Studie

Die US-Amerikaner*innen waren kontrollierter und resignierter als die Europäer*innen, während die Europäer*innen mehrheitlich gewöhnliche Essverhalten zeigten. Die meisten US-Amerikaner*innen waren „Pragmatiker“ (36,67%) und die meisten Europäer*innen gehörten zu der Gruppe der „Durchschnittlichen“ (42,64%).

42,67% der „Idealisten“ waren übergewichtig und fettleibig, während lediglich 36,21% der „Pragmatiker“ übergewichtig und fettleibig waren. Außerdem hatten die „Idealisten“ (24,90) einen höheren BMI-Durchschnitt als „Pragmatiker“ (23,38).

In Bezug auf die sozialen Essgewohnheiten haben die Untersuchungen gezeigt, dass sich Europäer*innen sozialer als US-Amerikaner*innen ernähren. Sie genießen die geselligen und genussvollen Aspekte beim Essen. Ihre Kindheit besteht aus mehr gemeinsamen Ess- und Kochaktivitäten als die der US-Amerikaner*innen. Außerdem haben die sozialen Esser einen niedrigeren durchschnittlichen BMI (23,71) als die Allein-Esser (24,58).

Die Ergebnisse zeigten, das Essen außer Haus – aufgrund ungesünderer Inhalte und höherer Verfügbarkeit von "ready-to-eat" Lebensmitteln – Übergewicht oder Fettleibigkeit förderte. Darüber hinaus verhinderte Kochen Übergewicht oder Fettleibigkeit. Dies konnte mit der Frische der beim Kochen verwendeten Lebensmittel und der mit dem Kochen verbundenen körperlichen Aktivität erklärt werden.

Schlussfolgerung

Das Befolgen von strengen Regeln, Prinzipien und Ernährungsrichtlinien in Bezug auf biologisch-medizinische Aspekte des Essens verhindert nicht, dass ein Individuum übergewichtig oder fettleibig wird. Die Fokussierung auf die Erlebniswelt des Essens – mit Fokus auf den sinnlichen Genuss und die soziale Komponente des Essens – könnte jedoch einen Beitrag leisten Übergewicht oder Fettleibigkeit verhindern. Weder eine Orientierung auf das gesunde Essen noch ein soziales Essverhalten fördern oder verhindern Fettleibigkeit direkt.

Alles in allem haben die Untersuchungen gezeigt, dass Fettleibigkeit nicht nur davon abhängt, welche Nahrung Menschen zu sich nehmen, sondern auch davon, wie, wann, wie oft und mit wem sie essen.

Quellen:

Barilla Center for Food and Nutrition. (2012). Double Pyramid 2012: Enabling sustainable food choices. 141. Retrieved from www.barilla.com

Chrysochou, P., Askegaard, S., Grunert, K. G., & Kristensen, D. B. (2010). Social discourses of healthy eating. A market segmentation approach. Appetite, 55(2), 288–297. doi.org/10.1016/j.appet.2010.06.015

De Castro, J. M. (1997). Socio-cultural determinants of meal size and frequency. British Journal of Nutrition, 77(S1), S39–S55. doi.org/10.1079/bjn19970103

Fischler, C. (1988). Food, Self and Identity. Social Science Information, 27, 275–293.

Fischler, C. (2011). Commensality, society and culture. Social Science Information, 50(3–4), 528–548. doi.org/10.1177/0539018411413963

Grunert, K. G., Brunso, K., & Bisp, S. (1993). Food-related life style. Development of a cross-culturally valid instrument for market surveillance. MAPP Working Paper, 12(10), 1–44.

Masson, E., Debucquet, G., Fischler, C., & Merdji, M. (2016). French consumers’ perceptions of nutrition and health claims: A psychosocial-anthropological approach. Appetite, 105(June), 618–629. doi.org/10.1016/j.appet.2016.06.026

Reid, M., Li, E., & Bruwer, J. (2008). Journal of Food Products Food-Related Lifestyles in a Cross-Cultural Context. Journal of Food Products Marketing, 7(4), 19–35. doi.org/10.1300/J038v07n04

Rozin, P. (2005). The meaning of food in our lives: A cross-cultural perspective on eating and well-being. Journal of Nutrition Education and Behavior, 37(SUPPL. 2). doi.org/10.1016/S1499-4046(06)60209-1

Rozin, P., Fischler, C., Shields, C., & Masson, E. (2006). Attitudes towards large numbers of choices in the food domain: A cross-cultural study of five countries in Europe and the USA. Appetite, 46(3), 304–308. doi.org/10.1016/j.appet.2006.01.017

Sproesser, G., Ruby, M. B., Arbit, N., Akotia, C. S., Alvarenga, M. D. S., Bhangaokar, R., … Renner, B. (2019). Understanding traditional and modern eating: The TEP10 framework. BMC Public Health, 19(1), 1–14. doi.org/10.1186/s12889-019-7844-4

Foto von Caleb Oquendo von Pexels


01.07.2021