Landschaften der Piraterie - Eine Ästhetik des Habhaftwerdens

Über Landschaften der Piraterie zu sprechen mag einem Sprechen über Peripherie-Landschaften gleichkommen. Liegen doch die Orte, die sich piratischen Besetzungen anbieten, eher in der Peripherie der Städte, die allerdings, wie mittlerweile durch Untersuchungen zur Zwischenstadt hinreichend belegt, auch mitten im städtischen Gefüge liegen kann. Den Begriff der Piraterie gebrauche ich in Anlehnung an ein Postulat des französischen Wissenschaftsphilosophen Michel Serres. Statt technischen Fortschritt kulturpessimistisch zu verdammen, vertritt Serres die Auffassung, dass jede Erfindung, die den Menschen von bestimmten Aufgaben entlaste, wiederum ein Potential für neue Fertigkeiten freisetze. So sei mit dem Internet eine neue Netzkultur entstanden, die zugleich eine neue demokratische Wissenskultur hervorgebracht habe. Wissen ist heute in hohem Maße frei zugänglich und teilbar, gegebenenfalls auf piratischem Wege, wie bei Praktiken von Computerhackern, die sich Zugang zu verbotenen virtuellen Wissensterrains verschaffen. Diese Piraten des Wissens bezeichnet Serres nun als gute Piraten, die mit anarchischen, aber legitimen Mitteln eine pädagogische Gesellschaftsutopie umsetzen wollten.[1]  Nicht um virtuelle, sondern um reale landschaftliche Terrains soll es im folgenden gehen, die von Serres als netzartige Gewebe gedacht werden, deren Knotenpunkte als Orte zwischen lokalen und globalen Strukturen gespannt sind: „Die Landschaft versammelt Orte. Ein Ort ist ein Punkt mit einer Umgebung: eine Quelle, ein Brunnen, ein aus der Küstenlinie vorspringendes Kap, eine Insel, ein kleiner See, das lange Band eines Baches, die Verengung auf dem Gipfel des Passes, die Engstelle zwischen den Ufern des Flusses, der den Fuß des Hügels umspült, eine Lichtung, eine Furt, ein Hafen, ein topografisches Ereignis, ein Hindernis, eine Grenze oder Katastrophe; jemand beschließt, sich in der Nähe einer bereits bestehenden Singularität niederzulassen, und belädt sie mit seiner eigenen Singularität.“[2] Im Nebeneinander einer Vielzahl miteinander verwobener Singularitäten entstehe die Landschaft als „Flickenteppich, bekleidet mit Fetzen. Hier gewöhnlich, dort großartig.“[3] Solche mit Serres gesprochen zusammengeflickten Mikrolandschaften bilden heute Agglomerationsräume, die herkömmlichen Vorstellungen einer schönen Landschaft oder einer geordneten Stadt kaum entsprechen.[4] Hier entwickeln sich neue Formen der Landnutzung und Aneignung, wenn Initiativen unterschiedlichster Art Flächen besetzen, die zumindest zeitweilig aus der Ökonomie des Flächenmarktes herausfallen. Einige entstehen ohne planerisches Zutun, andere werden mittlerweile durch professionelle Planung initiiert und/oder begleitet. Je nach Interessen, finanziellen Möglichkeiten, Infrastruktur, Lage etc. füllen sich die Flächen punktuell und zumeist temporär mit differenten Nutzungen. Mit Strategien räumlicher Aneignung außerhalb oder quer zu etablierten Planungsstrukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen entstehen gleichsam Landschaften der Piraterie. Piraten agieren in einem rechtsfreien Raum bzw. nehmen für sich in Anspruch, an kein geltendes Recht gebunden zu sein. Ein genauerer Blick auf ausgewählte Projekte wird zeigen, ob dieser Begriff Bestand haben kann. Die Gruppe urban catalyst hat in ihren Untersuchungen zu diesen Phänomenen nicht von Piraten gesprochen, sondern den positiver besetzten Begriff der Raumpioniere eingeführt.[5] Kein Zufall ist der enge Bezug dieses Terminus zu US-amerikanischen Landschaftskulturen. Auch andere europäische Projekte, wie z.B.  „Land for Free“ (im Rahmen der Ruhr 2010/Kulturhauptstadt Europas) beziehen sich in Konzeption und Begrifflichkeit auf eine amerikanisch geprägte Vorstellung von Landschaft, die eng an den Mythos von Besiedlung und das Konzept der Frontier als Verheißung auf scheinbar jungfräuliches, frei verfügbares Land gekoppelt ist. Projekte, die Landschaft mit piratischen Strategien verändern wollen, geben Anlass, über deren Ästhetik neu nachzudenken. Entsteht eine Landschaftsästhetik jenseits oder besser gesagt diesseits des komponierenden Blicks, eine Ästhetik des Habhaftwerdens? Welche Attribute zeichnen diese aus? Was bedeutet dann Entwerfen von Landschaft?

Sphären des Öffentlichen

Solche Fragen wirft ein Kunstprojekt auf, das auf den ersten Blick einer Landschaftsästhetik des 18. Jahrhunderts verpflichtet zu sein scheint. Wer aus Mitteleuropa kommend die weite Reise in die norwegische Provinz Nordland nördlich des Polarkreises unternimmt, meint sich in eine vollkommen andere Welt versetzt. Die eben noch aktuellen Diskussionen um zeitgemäße Landschaftsbegriffe, um Zwischenstadt und Agglomerationen scheinen angesichts der Omnipräsenz der nordischen Fjordlandschaft obsolet. Diese Landschaft ist überwältigend schön, wenn nicht gar erhaben und scheint von Menschen unberührt. Was von ausländischen Touristen als Naturidyll wahrgenommen wird, ist aber aus norwegischer Perspektive lange missachtete Peripherie. Die Provinz Nordland ist mit einer Einwohnerdichte von 6 Ew/km² selbst für norwegische Maßstäbe dünn besiedelt. Die hiesige Bevölkerung muss große Distanzen überwinden, um kulturelle Ereignisse wahrnehmen zu können. Vor diesem Hintergrund wurde die Idee für Artscape geboren. Ab 1992 wurden 33 international renommierte Künstler eingeladen, in der Provinz Nordland ein Kunstwerk in der Landschaft an einem Ort ihrer Wahl zu entwickeln. Artscape Nordland präsentiert heute kein homogenes Konzept, sondern eine Sammlung unterschiedlicher Positionen zu Kunst und Landschaft.[6] Doch immer setzen sich die Arbeiten mit den Spuren menschlichen Lebens und Einwirkens auf die Landschaft auseinander. Einige Projekte sind im Kontext der in den neunziger Jahren einflussreichen Kunst des Öffentlichen (Public Art) zu sehen, deren Künstler sich als soziale Akteure verstehen, die sich in gesellschaftliche Prozesse einmischen und Position beziehen. Landschaft wird hier nicht nur als Bild-, sondern zugleich als gesellschaftlicher Aktions- und Deutungsraum thematisiert.    Innerhalb dieser Ambivalenz bewegt sich auch der isländische Künstler Olafur Gislason im Projekt Media Thule, das sich der nordländischen Felsenküste als Bild- und Handlungsraum nähert. Der Name ist Programm: während „Media“ Fragen nach den Möglichkeiten einer Mediatisierung des Ortes aufwirft, steht „Thule“ für die allmähliche Wandlung eines realen in einen mythischen Ort der Sehnsucht am nördlichen Ende der Welt. Gislason hat neben den Fundamentresten eines alten Steinhauses eine einfache Holzhütte errichtet, deren breite Fensterfront den Ausblick auf Meer und Bergsilhouette rahmt. In der Hütte liegen Papier, Farben und Stifte bereit, die den Besucher dazu auffordern, die eigenen Landschaftsansichten aufzuzeichnen. Jedes hier entstandene Bild, jeder Text wird in der Hütte archiviert. Entstanden ist ein Atelier, das durch seine Handlungsaufforderung den Naturraum in eine soziale Landschaft verwandelt. Zelebriert wird einerseits - in der Tradition der Landschaftsmalerei - der Blick in die Landschaft. Doch die Aufmerksamkeit richtet sich über das Anschauungsobjekt hinaus auf das wahrnehmende und empfindende Subjekt, das die „Landschaft da draußen“ erst zum Entstehen bringt. Denn für Gislason machen die Menschen den Ort zu dem, was er ist, zu einem kulturellen Raum. Media Thule bildet mit seinem wachsenden Archiv von Bildern und Texten ein chronologisches Psychogramm des Ortes. Wie schon in anderen Projekten in städtischen Kontexten[7] initiiert Gislason einen Prozess, in dem die Landschaft als demokratischer, gesellschaftlicher Raum fungiert – als Sphäre des Öffentlichen.  Dieses Landschaftsverständnis ist diametral entgegengesetzt zu der von Joachim Ritter in den sechziger Jahren formulierten und bis heute einflussreichen Auffassung,  Landschaft bilde – zivilisationskompensierend - einen Gegenraum zur Gesellschaft.[8] Mit der Rede von Alltagsexperten in seiner künstlerischen Arbeit verschiebt Gislason auch die Rollenverteilung zwischen Künstler und Rezipient, der nun als Experte in eigener Sache mit dem Künstler in einen Dialog tritt. Ist es legitim, bei dem Projekt Media Thule von einer Ästhetik des Habhaftwerdens zu sprechen? Ist doch jede Form visueller Wahrnehmung eine Form der Aneignung, eben des Habhaftwerdens der Landschaft. Gislason geht aber noch weiter: nicht die Wahrnehmung des Künstlers soll vermittelt werden, sondern der Besucher als Teilhabender rückt mit seinen Vorstellungen in den Mittelpunkt des Kunstwerks. Gislason initiiert einen Kommunikationsprozess, in dem Unterschiede landschaftlicher Wahrnehmung verhandelt werden. Macht man Landschaft über Kunst verhandelbar, wird sie zum demokratischen Raum. Im Projekt Artscape Nordland spiegelt sich dies nicht nur in den Kunstwerken, sondern genauso im Entstehungsprozess der Arbeiten, der sich zwischen Künstlern, Öffentlichkeit, Politik, Verwaltung und Experten entfaltete und der die Kunstwerke in ihrer Gestalt und heutigen Nutzung beeinflusste. Die zeitgenössische Theorie beschreibt Landschaft als Arena, in der Konflikte ausgetragen werden, ein Raum für Zuschauer wie für Akteure.[9]

Kulturwissenschaft der Landschaft

Der US-amerikanische Landschaftsforscher John Brinckerhoff Jackson gründete 1951 die Zeitschrift „Landscape“, die sich zur Keimzelle der so genannten Cultural Landscape Studies entwickeln sollte. In der Zusammenführung von Geografen, Landschaftsarchitekten, Soziologen, Archäologen und Kulturwissenschaftler trug „Landscape“ zu einem innovativen Landschaftsbegriff bei, der die gesamte menschliche Umwelt, bebaut und unbebaut, einschließt: eine Betrachtungsweise, die Landschaft primär als Ergebnis menschlicher Kultur auffasst, wobei Hoch- neben Alltagskulturen gleichermaßen beachtet werden. Was für einen Kulturbegriff liegt einer solcherart verstandenen Kulturwissenschaft der Landschaft zugrunde? Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts befassten sich amerikanische Landschaftsanalysen mit Alltagslandschaften, doch in der Regel unter dem Vorzeichen, Ausdrucksformen der amerikanischen Kultur zu verorten. Lediglich regionale Spielarten waren denkbar. In der Folge entstanden kulturelle Kartografien, die einen bestimmten Ort mit einer spezifischen Kultur verknüpften. Spätestens seit den achtziger Jahren öffnete sich diese Sichtweise im Kontext von Globalisierung und Migration. Die Denkfiguren  des Dazwischen und der Hybridität zur Beschreibung der immer stärkeren Mischung zuvor eindeutiger Identitäten und Kulturen wurden etabliert.[10] Vormals statisch und ortsbezogen gedacht wird Kultur nun als dynamische und veränderliche Konstruktion gedacht, die durch die Menschen immer wieder neu herzustellen ist. So betrachtet wird auch Kultur-Landschaft zu einem dynamischen Konzept, das durch das Handeln Einzelner oder sozialer Gruppen immer wieder neu gebildet wird. Dabei meint die Herstellung von Landschaft nicht nur Eingriffe in  den materiellen Raum, sondern gleichwohl die Konstruktion von Landschaft als symbolischer, kultureller, sozialer und politischer Raum. Landschaft wird täglich produziert (und auch konsumiert): durch die Landschaftsarchitektin wie den Landwirt, durch den Filmemacher wie die Werbegrafikerin und nicht zuletzt durch die Menschen, die in der Landschaft leben und arbeiten. Dieses zeitgenössische Verständnis der Kultur-Landschaft kommt der mittelalterlichen Bedeutung des Landschaftsbegriffes erstaunlich nah. Der Landschaftsforscher J.B. Jackson nannte die mittelalterliche Landschaft „Landschaft Eins“, die er in ihrer Gestalt als ein Mosaik von kleinen Landschaften, als einen Flickenteppich beschrieb. Als „Landschaft Zwei“ bezeichnete er die hierarchisch strukturierte, wohlgeordnete Landschaft der Aufklärung, in deren Gestaltung sich die gute politische Ordnung eines Fürsten ausdrücken sollte. Unsere heutige Landschaft nannte Jackson „Landschaft Drei“, wie im Mittelalter ein Nebeneinander heterogener Nutzungen, durch Mobilität und Wandel charakterisiert.[11] Dass dieser Blick auf Landschaft kein spezifisch amerikanischer ist, belegt wiederum der Franzose Serres, wenn er  in einem Kapitel über den „gemischten Ort“ seine Beobachtungen zu Landschaft formuliert: „Wir sehen einen Pudding aus Lokalitäten, einen Flickenteppich, ein changierendes Schachbrett; wenn es ein Transzendentales gibt, können wir es nur als aus singulären Orten zusammengesetzt beschreiben. Gewiß, das Allgemeine, ein recht seltener Fall, kommt gelegentlich vor, aber nur als Glücksfall, wie eine Losnummer, auf die ein Gewinn entfällt: Unter diesem glatten Ereignis bleibt das Bedingende ein aus lokalen Seiten zusammengeflickter Ort, eine an Umständen reiche Landschaft.“[12] Doch ist dieser aus lokalen Seiten zusammengeflickte Ort, wie Serres immer wieder betont, anders als im Mittelalter heute in ein globales Netz unterschiedlichster Ortsbeziehungen eingebunden. Und anders als im Mittelalter sind wir zumindest in den USA und in Europa nicht mehr feudalistisch, sondern demokratisch organisiert. An diesem Punkt setzt auch Jacksons Landschaftsutopie an. Zwar propagiert er zunächst einen nüchternen, beschreibenden Blick auf die Landschaft, die nicht mehr an überkommenen ästhetischen Maßstäben der Renaissance und der Aufklärung zu messen sei. Nichtsdestotrotz wagt er den Versuch, eine zeitgemäße Landschaftsutopie zu formulieren: es müsse, so Jackson, möglich sein, eine Landschaft zu gestalten, in der sich das Leben ihrer Bewohner im besten Sinne abzeichne und zum Ausdruck komme. Will heißen, in einem demokratischen und sozial gerechten Sinn. Es ist ein Plädoyer für gesellschaftliche Verhältnisse, die dem Einzelnen Mitbestimmung und Gestaltungsspielraum ermöglichen, was sich für Jackson letztendlich in den Landschaftsverhältnissen ausdrücken würde. Neue Landschaftsverhältnisse Doch wo liegen heute die Gestaltungsspielräume bei Planungen für schwer prognostizierbare Entwicklungen? Zu denen zählt seit geraumer Zeit das Phänomen der Schrumpfung, das sich oftmals in einem räumlichen Nebeneinander mit Wachstumsregionen vollzieht. Von der These geleitet, dass Räume sich heute nicht mehr funktional, sozial oder ästhetisch vorprogrammieren ließen, hat das Forschungsprojekt „Schrumpfende Städte“ eine weltweite vergleichende Studie über urbane Schrumpfungsprozesse und deren Ursachen durchgeführt und die Ergebnisse 2005 in einer Ausstellung präsentiert. [13] Begleitend dazu wurde gemeinsam mit der Zeitschrift archplus der internationale Ideenwettbewerb „Schrumpfende Städte – Die Stadt neu denken“ ausgerufen, der nach „Strategien im Umgang mit neuen räumlichen Unbestimmtheiten“ suchte, so die Auslober.[14] Auffallend war der überwiegend dokumentarische Charakter der prämierten Beiträge. Als ob die aktuellen Veränderungsprozesse das Bedürfnis verstärkten, sich des real Vorgefundenen zu vergewissern. Zuweilen blieb nur der eigene Körper als konstante Größe, er spielte eine zentrale Rolle in den Beiträgen, die sich kaum mehr als Planungen bezeichnen ließen, eher als Regieanweisungen für Performances oder Handbücher für zukünftige Landnutzer. Einen direkten Bezug zur amerikanischen Siedlerideologie Jeffersons stellte der Projektvorschlag „Claiming Land“ her, den eine Gruppe deutscher Planer und Künstler für den Raum Manchester/Liverpool entwickelt hatte. In der so genannten „Pionier-City“ sollte Land gegen Vorlage einer Nutzungsidee kostenlos vergeben werden.[15] Ihr planerisches Konzept erläuterten die AutorInnen in Verschränkung mit dem Roman „Mason & Dixon“ von Thomas Pynchon, der im Kontext von Grenzstreitigkeiten in den Vereinigten Staaten des 18. Jahrhunderts über Freiheitsversprechen, „leere Flecken zwischen den Städten“ und „fließende Identitäten“ philosophiert. Natürlich war die damalige Besiedlungsstrategie nicht frei von Ideologien. Als Jefferson 1785 mit dem so genannten Land Ordinance Act die systematische Besiedlung der Vereinigten Staaten eingeleitet hatte, sah er das Gelingen eines demokratischen Gemeinwesens an Gemeinschaften von Farmern als Landbesitzern gebunden, die ihr Land nutzen und gestalten. Das „Grid“, ein Landnutzungsraster mit einer Seitenlänge von einer Meile, legte Jefferson über das ganze Land und drückte ihm damit den Stempel seiner demokratischen, aber auch antistädtisch ausgerichteten Utopie auf. Dieselben Regeln der Landnutzung sollten von der Ost- bis zur Westküste Gültigkeit haben und die Grundlage einer neuen egalitären Gesellschaft bilden. Besonderheiten und Unterschiede, der Topografie genauso wie der Bevölkerung, waren dem allumfassenden Raster untergeordnet. Dieses räumliche Organisationsprinzip hat in den USA auch zu der Vorstellung der Stadt als Teil, nicht Gegenteil der Landschaft beigetragen. Jeffersons Verknüpfung der gesellschaftlichen mit einer räumlichen Utopie wurde im zwanzigsten Jahrhundert von J.B. Jackson skeptisch kommentiert. Zwar in der Grundhaltung mit Jefferson übereinstimmend, dass der Mensch Gestalter der Landschaft sei, sah er durch Jeffersons Besiedlungsstrategie schon zu viele Parameter vorgegeben. Sie sei noch zu sehr der europäisch tradierten Landschaftsgestaltung der Aufklärung verhaftet gewesen, so Jackson. Genausowenig würden in solch einem Ordnungsraster Mobilität und Wandel als prägende Kennzeichen der amerikanischen Gesellschaft berücksichtigt. [16] Anders beim aktuellen Projekt „Land for Free. Die Stadt der Pioniere“, das in Fortführung der Grundidee von „Claiming Land“ vom selben Team für das Ruhrgebiet entwickelt wurde. Der Name ist wiederum Verheißung: versprochen wird freies Land, „das darauf wartet, neu in Besitz genommen zu werden – von Menschen, die sich auf diesem Land, auf diesem Stück Ruhrland, ihren Traum erfüllen wollen.“[17] Von Freiheitsversprechen eines nur wenig vorbestimmten Landes ist hier die Rede, das Riskante, Spielerische und Temporäre dieser Unternehmung wird betont. „Land for Free“ wurde als eines von zehn Leitprojekten der Ruhr 2010, Kulturhauptstadt Europas ausgewählt. Die Grundidee, Land gegen gute Ideen zumindest temporär kostenlos abzugeben, wurde 2005 durch eine Machbarkeitsstudie konkretisiert und verfeinert. Man traut dem Projekt zu, auch für andere europäische Regionen mit ähnlichen Problemlagen richtungsweisend zu sein, für Regionen mit wachsenden Brachflächen, die lediglich Pflegekosten verursachen und sich schlimmstenfalls negativ auf benachbarte Flächen auswirken.
Ausgewählt und mit dem poetischen Namen „Zweistromland“ bezeichnet wurde eine 11qkm große Insel zwischen Emscher und Rhein-Hernekanal, die vom Planerteam auch als Ruhrgebiet im kleinen charakterisiert wird: extrem zerschnitten durch Infrastrukturtrassen, dicht belegt mit einer Vielzahl unterschiedlicher, sich überlagernder Planwerke. Man habe es hier, so die Planer, mit einer Frontier in doppeltem Sinne zu tun: neben den vielen räumlichen Grenzsituationen stoße man mit dem Projekt auch in planungsrechtliches, strategisches und nicht zuletzt ästhetisches Neuland vor, wie in der Machbarkeitsstudie erläutert: „Die ‚Insel‘ als realer Ort existiert gegenwärtig nur, wenn man sich vorsätzlich und systematisch über Grenzen hinwegsetzt, wenn man immer wieder Regeln und Verbote verletzt - Grenzen, Regeln und Verbote, die jedoch zusehends an Bedeutung verlieren werden, wenn die Transformation dieses regionalen Raumes gelingen soll. Noch ist die ‚Insel‘ also ein uneingelöstes Versprechen, ein Raum, den man entdecken und ein Stück weit erobern muss.“[18] Was veranlasst nun die Grundeigentümer, ihre Flächen für solch ein Konzept freizugeben? Zum einen ist das Brachliegen dieser Flächen teurer als die Überlassung an andere Nutzer. Zudem erhofft man sich durch die Pioniere ein Voranbringen der bestehenden Planungsziele oder eben die Etablierung neuer Entwicklungsziele, die sich positiv auf angrenzende Flächen auswirken könnten. Die Planer wiederum wollen einen neuen Blick auf Ruhrgebiet kultivieren und preisen dessen „verwunschene Unübersichtlichkeit und unabsichtliche Schönheit“, das Ruhrgebiet sei „    bzw. zu begleiten, verweist auf amerikanische Traditionen der Landaneignung. Auch die Namengebung der ausgewählten Flächen schöpft aus den Legenden und Mythen des Amerikanischen Westens. Namen wie „Schwarze Bucht“, „Jenseits von Ebel“ oder „Texas“ wollen das Vorstellungsvermögen der potentiellen Nutzer anregen, ohne zu konkrete Bilder heraufzubeschwören. Dem Instrument der Erzählung zur Vermittlung planerischer Strategien kommt bei diesen Projekten ein besondere Rolle zu, schließlich gilt es Ideen und Handlungskonzepte zu transportieren. Stories und Metaphern übernehmen hier die Funktion visionärer Bilder, die sich aufgrund der Offenheit des Konzeptes schwer skizzieren ließen. Das Modell der sogenannten informellen Stadt wollen die Planer hier umsetzen, der Prozess der Stadtgründung sei als kulturelle Leistung anzuerkennen. Der Prozess schiebt sich gegenüber dem Endprodukt, das es vielleicht nie geben wird, in den Vordergrund.  „Land for Free“ ist ein Projekt mit experimentellem Charakter und nicht vorhersehbarem Ausgang. Viele Fragen bleiben noch offen: Welche Vorgaben werden notwendig sein, wieviel Offenheit ist möglich bzw. notwendig? Je weiter man sich von etablierten Pfaden entfernt, je offener der Handlungsspielraum definiert ist, je heterogener die Teilnehmerschaft zusammengesetzt ist, desto größer wird der Regelungs- und Abstimmungsbedarf. Doch kann man Regeln für Abläufe formulieren, die z.Z. nur innerhalb rechtlicher Grauzonen machbar sind? Nach welchen Kriterien werden die Teilnehmer ausgewählt? Nach ästhetischen Maßstäben , nach demokratischen Gesichtspunkten oder pragmatisch nach Reihenfolge der Anmeldung? Wie eng wird das Raster gesetzt, wird es eine Form ästhetischer Vorgaben geben? Es wird noch spannend zu beobachten sein, ob und in welcher Form die Ansprüche des planerischen Konzeptes schließlich  realisiert werden. Die planerisch begleitete Freigabe von Land wird kein Generalmodell zukünftiger Landschaftsentwicklung sein – dieser Anspruch wird auch gar nicht formuliert - , weil ihr Gelingen stets von mehreren Faktoren, vom Milieu, der Lage der Flächen, der Infrastrukturversorgung etc. abhängig ist. Doch an die generelle Gültigkeit der Erkenntnis, dass sich menschliches Handeln in die Landschaft einschreibt, gemahnt wiederum Michel Serres, wenn er seinen eindringlichen Appell an uns richtet: „Erkennen Sie den ästhetischen Irrtum, der in der Unterwerfung unter ein Gesetz legt: das Weghobeln des lokalen Ereignisses führt zu langweiligen, häßlichen Ergebnissen: zu einer Welt ohne Landschaften, zu Büchern ohne Seiten, zu Wüsten. Wenn Sie alles wegnehmen, sehen Sie gar nichts mehr. Den Raum zu sehen erfordert Zeit, schlagen Sie die Zeit nicht tot. Vermeiden Sie den inversen Irrtum, im Fragment  zu schwelgen. Das Fehlen des Erzählerischen ist ebenso langweilig wie das Gesetzmäßige, und es macht noch häßlicher. Komponieren verlangt eine Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zwischen dem Nahen und dem Fernen, zwischen Erzählung und Regel, zwischen der Einheitlichkeit des Wortes und dem nichtanalytischen Pluralismus der Sinne, zwischen Monotheismus und Heidentum, zwischen der internationalen Autobahn und den einsamen Dörfern, zwischen der Wissenschaft und den Literaturen. Halten Sie das galoppierende Pferd im Zaum, verhindern Sie, dass es ausbricht, sehen Sie den Weg voraus. Passen Sie genau auf, antizipieren Sie. Die Philosophie erfordert zuweilen Synthesen. Visitieren Sie. Und plötzlich sehen Sie zugleich die Miniatur und das Panorama.“[19] Serres leidenschaftliches Plädoyer lässt sich als Handlungsaufforderung für Landschaftsarchitekten lesen, das Bausteine für eine Ästhetik des Habhaftwerdens liefert. Mit Serres gesprochen liegt die Herausforderung für Planer in der Hinwendung zur Miniatur, die Raum für das lokale Ereignis gibt, ohne dabei das Panorama der geordneten Landschaft aus dem Blick zu verlieren. Eine Ästhetik des Habhaftwerdens bewegt sich in einem Wechselspiel zwischen Piraterie und Domestizierung. Ohne erstere gibt es keine Innovation, ohne letztere ist kein gesellschaftliches Leben möglich.


[1] Frank Hartmann und Bernhard Rieder im Gespräch mit Michel Serres: Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat. In: TELEPOLIS 01.03.2001, www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3602/1.html [2] Serres, Michel (1998):  Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main, S. 323 (franz. Originalausg. 1985) [3] Serres, Michel (1998):  Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main, S. 317 (franz. Originalausg. 1985) [4] vgl. Franzen, Brigitte; Krebs, Stefanie (2006): Mikrolandschaften/Microlandscapes. Landscape Culture on the Move. (=Gegenwartskunst + Theorie, Band 1, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster) [5] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hg.): Urban Pioneers. Berlin 2007 [6] vgl. Krebs, Stefanie (2006): Art and Landscape.  Works of Art in the Norwegian Fjord Landscape.
In: TOPOS 56, Themenheft Cultural Landscapes, S. 72-78 [7] vgl. Gislason, Olafur (2003): Alltagsexperten. Ausstellungskatalog Sprengelmuseum Hannover, Frankfurt a. Main [8] Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft.  (Text gehalten als Rede bei der Übernahme des Rektoramtes der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Nov. 1962) In: Gert Gröning und Ulfert Herlyn (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. (=Arbeiten zur sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung, Band 10) Münster 1996, S. 28-68 [9] vgl. Cosgrove, Denis (2004): Landscape and Landschaft. Vortrag im Rahmen des Symposiums „Spatial Turn in History“ am German Historical Institute in Washington/D.C., 19. Feb. 2004. In: GHI Bulletin 35, Herbst 2004 [10] vgl. etwa Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen (engl. Originalausg. 1993) sowie Hall, Stuart; Du Gay, Paul (1996): Questions of Cultural Identity, London [11] Jackson, John Brinckerhoff (1984/2005): Landschaften. Ein Resümee. In: Franzen, Brigitte; Krebs, Stefanie (2005): Landschaftstheorie. Köln [12] Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main, S. 418 (franz. Originalausg. 1985) [13] www.shrinkingcities.com [14] »Schrumpfende Städte« ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift archplus. 15] Ebd.. Das Projekt »Claiming Land« wurde von S. Bremer, D.E. Haas, P. Kataikko, H. Sander, A. Schulze Bäing und B. Sieverts entwickelt. Vgl. auch Haas; Dirk E. (2005): [Claiming Land] & Poetry. In archplus 173/Mai 2005, S. 40-43 [16] Vgl. Jackson, John Brinckerhoff (1984/2005): Landschaften. Ein Resümee. In: Franzen, Brigitte; Krebs, Stefanie (2005): Landschaftstheorie. Köln, S. 29-35 [17] Büro für Städtereisen et al. (2004): Land for Free. Die Stadt der Pioniere: Eine Kampagne für das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010. www.neueraeume.de/projekte/sieverts_land_for_free.pdf [18] Machbarkeitsstudie: Land for Free im Zweistromland“ (2005) im Rahmen der Bewerbung der Stadt Essen für das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt 2010, Land for Free Group: Büro für Städtereisen, orange.edge, RE.FLEX architects_urbanists [19] Serres, Michel (1998):  Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main, S. 321 (franz. Originalausg. 1985)

Abbildung 1 und 2
Olafur Gislason: Media Thule, Tjeldsund, Norwegen, 2003
(Quelle: Jaukkuri, M. (Hg.) (2000): Skulpturlandschaft Nordland. Artscape Nordland. – Nordland Fylkeskommune (Forlaget Press). Fotos von Werner Zellien

Abbildung 3 Claiming Land
Foto: D. E. Haas. Abbildung aus dem Beitrag »Claiming Land« des internationalen Wettbewerbs »Schrumpfende Städte – Die Stadt neu denken«  (S. Bremer, D.E. Haas, P. Kataikko, H. Sander, A. Schulze Bäing, B. Sieverts)

Abbildung 4 Luftbild Zweistromland
Quelle: Machbarkeitsstudie „Land for Free im Zweistromland“ (2005) im Rahmen der Bewerbung der Stadt Essen für das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt 2010, Land for Free Group: Büro für Städtereisen, orange.edge, RE.FLEX architects_urbanists

Abbildung 5  Pioniere
Quelle: Büro für Städtereisen et al. (2004): Land for Free. Die Stadt der Pioniere: Eine Kampagne für das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010. www.neueraeume.de/projekte/sieverts_land_for_free.pdf

Abbildung 6 Temporäre Bauten
Quelle: Büro für Städtereisen et al. (2004): Land for Free. Die Stadt der Pioniere: Eine Kampagne für das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010.

www.neueraeume.de/projekte/sieverts_land_for_free.pdf