Stand der Technik im Naturgefahren-Ingenieurwesen
„Stand der Technik“ ist der höchste Qualitätsmaßstab der Ingenieurskunst. Wenn die meisten Menschen diesen Begriff mit technischen Anlagen oder Bauwerken assoziieren, übersehen sie völlig, dass damit auch ein umfassendes Konzept zur Erhaltung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt beschrieben wird. Es geht um fortschrittliche Verfahren oder Betriebsweisen, die Emissionen in Luft, Wasser und Boden begrenzen, die Anlagensicherheit gewährleisten, eine umweltverträgliche Entsorgung und Wiederverwertung von Abfällen bewirken, gesunde Lebensmittel sichern oder erneuerbare Energien erzeugen. In all diesen Bereichen erbringen die Forscherinnen und Forscher der Universität für Bodenkultur Spitzenleistungen und tragen zur Weiterentwicklung des Standes der Technik bei. Im Kern geht es aber stets um den Schutz des menschlichen Lebens, der Gesundheit und Lebensgrundlage. Kein anderer Fachbereich als das Naturgefahren-Ingenieurwesen hat einen unmittelbareren Bezug zu dieser Zielsetzung. Die Ingenieurkunst zum Schutz vor meteorologischen Gefahren, Hochwasser, Muren, Lawinen, Steinschlag und Rutschungen hat an der Universität für Bodenkultur eine lange Tradition. Über viele Jahrzehnte wurden in diesem Haus wichtige Entwicklungen für die Gefahrenabwehr und das Risikomanagement vorangetrieben und entstanden in fruchtbringender Zusammenarbeit mit der Ingenieurpraxis wichtige Technologien und Schutzkonzepte. Besonders eng ist die Verbindung mit dem Forsttechnischen Dienst für Wildbach- und Lawinenverbauung in Österreich, wie aus dem Wirken der Pioniere dieses Fachbereichs – Seckendorff, Wang, Hofmann, Stiny und Aulitzky – für beide Institutionen erkennbar wird. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis vor wenigen Jahren kaum „allgemein anerkannte Regeln der Technik“ für Maßnahmen und Bauwerke zum Schutz vor Naturgefahren gab, während in anderen Ingenieurdisziplinen längst detaillierte Normen und Richtlinien das Ingenieurwesen regelten. Vielleicht lag es an der kaum berechenbaren oder messbaren Dynamik extremer Naturgefahrenprozesse oder der stark interdisziplinären Prägung des Fachbereichs, vielleicht aber auch an der verschworenen Gemeinschaft der Ingenieure des Hochwasserschutzes und der Wildbachverbauung, die keiner allgemein anerkannter Normen bedurften, um ihr Wissen auf höchstem Niveau fortzuentwickeln. Erst der enorme Entwicklungsschub, den das Naturgefahren-Ingenieurwesen – getrieben von der Zunahme großer Naturkatastrophen, den technologischen Quantensprüngen (z.B. Prozessmodellierung, technische Schutzsysteme und Naturgefahrenmonitoring) und der hohen Betroffenheit der Bevölkerung – genommen hat, führte zu einem Konsens über einen Bedarf nach einem „Stand der Technik“ im Naturgefahren-Ingenieurwesen. Die Universität für Bodenkultur kann aber den „Stand des Wissens und der Technik“ niemals allein vorantreiben, sondern ist auf das Netzwerk ihrer Partner angewiesen. Umso großartiger ist es, dass es im Rahmen dieser Tagung erstmals gelungen ist, führende Exponenten des Naturgefahren-Ingenieurwesens zu einer Leistungsschau zu versammeln. Es macht mich ein wenig stolz, dass die Universität als Austragungsort für die erste Fachveranstaltung dieser Art in Österreich gewählt wurde und den Rahmen für die Vernetzung und den Fachaustausch bieten kann. Dass das Thema der Tagung am Puls der Zeit ist, beweist die eindrucksvolle Zahl von fast 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Ob dies ein einmaliges Ereignis bleibt oder Wiederkehrwahrscheinlichkeit hat, wird der Erfolg der Tagung zeigen, der ich ein guten Verlauf und intensive Auseinandersetzung mit den „brennenden Fragen“ des Naturgefahren-Ingenieurwesens wünsche.