Ringvorlesung


Wer kurzzeitig das Gedächtnis verliert, hat Zeit verloren – kann diese wieder gewonnen werden? Man sagt, man hätte mit etwas nur Zeit verloren, ist also mit einer Idee nicht vorwärtsgekommen; oder jemand hat mir die Zeit gestohlen, mich also mit etwas im Nachhinein nicht Relevantem, daran gehindert, etwas Wichtiges zu tun, was nun aber nicht erfolgt ist. Auch ein Stück Freiheit ist auf diesem Wege verloren gegangen.

Ist die verlorene Zeit unwiederbringlich verloren? Lässt sich diese wieder gewinnen? Im Sinne einer Zurückstellung der Zeit und der darin erfolgten Ereignisse? Etwas unerwünscht Passiertes ungeschehen machen, liegt nicht in unserem Ermessen, vielleicht gedanklich/ spirituell, aber nicht real.

Im Zeitalter des Anthropozäns gilt Perfektion als ein Maß aller Dinge. Getrieben von höchsten Ansprüchen ist ein gewisses „Scheitern“ keine Überraschung – sozusagen eingepreist oder wir sind nicht ehrlich. Wir empfinden, dass die Dinge noch nicht fertig sind. Das Unvollendete/Unvollkommene macht sich dann breit, wenn die Zeit nicht mehr reicht, das, was man sich vorgenommen hat, zur Reife/zum Abschluss zu bringen. Oder es tritt ein, wenn uns neueste Erkenntnisse einen Strich durch die Rechnung machen oder aus Forscher*innensicht mehr unbeantwortete Fragen übrigbleiben als beantwortete. Das ist aber wiederum ein Kennzeichen der Wissenschaft und somit Teil der Übung.

Was kann Wissenschaft von Marcel Proust lernen? In Prousts Roman geht es um die Subjektivität der Wirklichkeitserfahrung, eine Auffassung die derjenigen in den herkömmlichen Wissenschaften diametral entgegensteht. Proust, ein Meister der Detailtreue, der sämtliche Winkel der menschlichen Existenz ausgeleuchtet hat, ist an Präzision seitens der Sozialwissenschaften, z.B. im Rahmen von Milieustudien, kaum einzuholen, was wohl auch letzteren geringen Zeit- und Finanzbudgets geschuldet ist.

Dieses Philosophicum setzt sich mit den Erfahrungen mit der Zeit auseinander – in literarischer, filmischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Weise.

In diesem abschließenden Philosophicum – es ist das letzte Mal, dass diese LVA angeboten wird - werden nochmals Themen aktiviert, welche über 20 Jahre immer wieder in verschiedenen Kontexten aufgegriffen wurden – die Zeit und die Freiheit (oder: Zeit, Freiheit, Sinn und was Tun). Marcel Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dient als Leitidee, aber nicht nur, denn die Zugänge zu diesem Thema sind schier endlos.

Wir sind Teil einer Gesellschaft, einer Geschichte. Rückblickend fragen wir uns: soll das alles gewesen sein? Haben wir uns genug eingebracht? Waren wir am richtigen Ort mit den richtigen Menschen zusammen? Hätten wir anderes tun sollen, als dass wir getan haben? War nicht das meiste Schein? Zeitvertreib ohne tiefere Sinnstiftung? Oder: „je ne regrette rien“ …; „I did it my way“ …?

„Keine Zeit“ ist heute eine häufige Antwort, ungeachtet dessen wir über Techniken verfügen, welche zu immensen Zeiteinsparungen beitragen, welche im Hintergrund aber einen Rucksack an Zusatzzeit erfordern, welcher erst wenn „abgetragen“ Zeiteinsparungen ermöglicht. In Summe haben wir zumindest nicht mehr „freie“ Zeit. Nicht selten sind es komplexe administrative und digitale Vorgänge, welche als Vorleistungen zu erbringen sind, meist verbunden mit der Preisgabe unserer persönlichen Daten und damit Aufgabe von Teilen unserer „Freiheit“. Haben wir wirklich „(keine) Zeit“?

Alle Termine und Infos finden sich auch im angehängten PDF:


11.09.2022