Aus vom Verbrenner-Aus?


Melanie Pichler vom Institut für Soziale Ökologie im Mediengespräch über die Krise der Autoindustrie und Chancen für den öffentlichen Verkehr.

Zu viel Regulierung, zu wenig „Technologieoffenheit“: Das beklagte die Autolobby im Vorfeld des EU-Autogipfels, der am 12. September stattfand. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen traf sich in Brüssel mit Vertrete*innen der Automobilindustrie, um über die Emissionsziele für den Verkehrssektor zu verhandeln.
Bereits Ende August forderte die europäische Autolobby eine Abkehr von den europäischen CO2-Vorgaben für die Branche. Die Ziele der Europäischen Kommission für 2030 und 2035 seien nicht mehr erreichbar, schrieben die Präsidenten der beiden Branchenverbände in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. 
Die Autolobby ist einflussreich, vernetzt und nicht allein. Auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA), die vergangene Woche in München stattfindet, polterten prominente Politiker*innen gegen das “EU-Verbrenner-Aus” 2035.
Anstatt Klimaziele auszuhebeln und fossile Technologien weiter zu stützen, braucht es vielmehr eine mutige, zukunftsfähige Industriepolitik. 
In Mediengespräch von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz beleuchten Melanie Pichler und Richard Bärnthaler die aktuellen Herausforderungen und skizzieren Lösungsansätze

Melanie Pichler (Boku): Der Krise der Autoindustrie muss mit einer umfassenden Mobilitätswende und einem Fokus auf den öffentlichen Verkehr begegnet werden.

Richard Bärnthaler (Universität Leeds): Zukunftsfähige Industriepolitik – Strategien für die Erreichung langfristiger sozial-ökologischer Ziele

Moderation: Alexander Behr (Diskurs. Das Wissenschaftsnetz)

Eine Veranstaltung von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz

 

Der Krise der Autoindustrie muss mit einer umfassenden Mobilitätswende und einem Fokus auf den öffentlichen Verkehr begegnet werden.
von Univ.-Prof. Melanie Pichler, Institut für Soziale Ökologie, BOKU


Aus vom Verbrenner-Aus?

Die Autoindustrie versucht mit allen Mitteln das sogenannte Verbot des Verbrennungsmotors für 2035, das die EU jahrelang ausverhandelt und 2023 schließlich beschlossen hat, zu kippen. Das Verbrenner-Aus ist dabei kein tatsächliches Verbot, sondern in der Verordnung (2023/851) ist geregelt, dass ab 2035 keine neuen Autos und leichten Nutzfahrzeuge, deren Nutzung CO2-Emissionen ausstößt, mehr verkauft werden dürfen. In einem offenen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen fordern die europäischen Auto- und Autozulieferindustrien den ausverhandelten Kompromiss, der ein wesentlicher Meilenstein bei der Erreichung der EU-Klimaziele ist, wieder aufzuschnüren. Dieses Vorgehen reiht sich ein in eine Reihe an Bestrebungen – sowohl einzelner EU-Mitgliedsstaaten als auch von Interessensvertretungen – mühsam beschlossene Kompromisse bei EU-weiten Umwelt- und Klimagesetzen wieder in Frage zu stellen (zuletzt etwa auch die EU-Verordnung zur Entwaldungsfreiheit).

Autoindustrie in der Krise

Konkret fordert die Autoindustrie Technologieneutralität, konkret dass auch nach 2035 Verbrennungsmotoren neu zugelassen werden dürfen sowie weitreichende Ausnahmen für Plug-in-Hybrid-Fahrzeuge sowie für efuels. Sie fordert damit ein Bewahren der aktuellen industriellen Strukturen in der europäischen Autoindustrie, deren „Erfolgsmodell“ auf große Autos mit Verbrennungsmotor für den Export abzielt. Nicht zuletzt das Festhalten an diesem Exportmodell führte in den letzten Jahren dazu, dass der Übergang in Richtung Elektroautos von China und anderen asiatischen Märkten vorangetrieben wurde und die Batterieproduktion dort angesiedelt ist. Die großen Autohersteller in der EU haben den Übergang zur Elektromobilität verschlafen und befinden sich in einer Dauerkrise.

Beharrungskräfte der Autoindustrie

Deutschland ist ebenso wie Österreich an vorderster Front der Blockierer. Das hat auch mit der ökonomischen und politischen Bedeutung der Autoindustrie in der EU zu tun, v.a. auch in Österreich, das eine starke Autozuliefererindustrie hat. Etwa 350.000 Beschäftigte sind direkt oder indirekt von der Autoindustrie abhängig und noch immer ist die Branche stark vom Verbrennungsmotor geprägt. Etwa ein Viertel des Produktionswertes wird direkt im Bereich Motoren und Getriebe erwirtschaftet. Das hat auch mit der hohen Abhängigkeit von der europäischen, und insbesondere der deutschen Autoindustrie zu tun. Mehr als 85% der Produkte werden exportiert, mehr als die Hälfte davon nach Deutschland. 

Klares Bekenntnis zum Umbau und aktive Förderung des öffentlichen Verkehrs

Ohne einen klaren Plan für den industriellen Umbau zementieren diese Beharrungskräfte die Produktion von immer mehr Autos weiter ein und beschränken sich die Maßnahmen der Unternehmen hauptsächlich auf eine ökologische Modernisierung, d.h. einen zaghaften Umstieg auf Elektromobilität und eine Verbesserung des Verbrennungsmotors. Dabei wird vergessen, dass genau die Technologieneutralität und der fehlende Umbauplan der letzten Jahre zur aktuellen Krise der Autoindustrie beigetragen haben, weil die Transformation verschleppt wurde.

Dabei kommt zu kurz, dass eine Mobilitätswende mehr ist als eine Elektrifizierung der Autoflotte; sie muss über die Produktion von immer mehr Autos – auch wenn sie mit Elektroantrieb fahren – hinausgehen. Mobilitätswende bedeutet weniger Autos und mehr öffentlicher Verkehr und aktive Mobilität. 

Mobilitätswende produzieren

Um die Klimaziele zu erreichen, müssen die öffentlich gefahrenen Personen-Kilometer in Österreich um 65 % steigen. Der Fokus auf den öffentlichen Verkehr kann auch für die industrielle Produktion und die Beschäftigten positive Effekte haben. Denn In Österreich gibt es z.B. in der Bahnindustrie erhebliches Potenzial. Wie eine kürzlich von der Uni Linz verfasste Studie im Auftrag der Arbeiterkammer zeigt, sind österreichische Unternehmen Weltmarktführer in der Produktion von Gleisbaumaschinen, elektromechanischen Antrieben und Sensortechnik. Die Bahnindustrie könnte damit auch eine Ersatzbranche für die kriselnde Autoindustrie sein. So kann der Rückgang in der Produktion von Autos mit einem aktiven Ausbau in der Produktion von Zügen, Bussen und dem entsprechenden Equipment einhergehen.

Melanie Pichler ist Professorin für Soziale Ökologie an der BOKU University, wo sie zu Konflikten um sozial-ökologische Transformation, insbesondere in den Bereichen Mobilität, Wohnen und Ernährung forscht. 

Wissenschaftlicher Kontakt
Univ.Prof. MMag. Dr. Melanie Pichler
BOKU University
Institut für Soziale Ökologie
Email: melanie.pichler(at)boku.ac.at
Telefon: +43 1 47654-73718

Zukunftsfähige Industriepolitik – Strategien für die Erreichung langfristiger sozial-ökologischer Ziele
von Dr. Richard Bärnthaler, Assistenzprofessor für ökologische Ökonomik am Sustainability Research Institute (SRI) der Universität Leeds

Die aktuelle EU-Industriepolitik ist nicht geeignet, um langfristig soziale Sicherheit und ökologische Stabilität zu gewährleisten. Zwar verfolgt sie drei ambitionierte, übergeordnete Ziele – die Stärkung der Resilienz des Binnenmarktes, die Förderung strategischer Autonomie für verbesserte Versorgungssicherheit und die Beschleunigung des grünen Wandels – doch mit den derzeitigen politischen Ansätzen sind diese Ziele nicht erreichbar (Bärnthaler et al. 2025).

Resilienz des Binnenmarkts

Die Stärkung der öffentlicher Bereitstellung in der Grundversorgung – etwa leistbares Wohnen, Energieversorgung, Gesundheitswesen und öffentliche Mobilität – ist zentral für gesellschaftliche Resilienz, steht jedoch nicht im Zentrum der aktuellen Industriepolitik (Foundational Economy Collective 2022; Edgerton 2023).

Vorschläge zur Priorisierung dieser Sektoren:

  • Stärkung öffentlicher Kontrolle über die Grundversorgung und deren Wertschöpfungsketten: durch öffentliches Eigentum, Gemeinnützigkeit sowie strategische öffentliche Beteiligung an Industrieunternehmen, um die industrielle Basis dieser Grundversorgung zu sichern und Schlüsselindustrien (z.B. für die Mobilitätswende) zu entwickeln
  • Qualifikationsagenda auf diese Sektoren ausrichten
  • Fiskalische Spielräume zur Stärkung der Grundversorgung schaffen – inkl. gemeinsamer EU-Schuldenaufnahme und Ausnahmen von Fiskalregeln (analog zur Rüstung)

→ Eine resilienzorientierte Industriepolitik muss eine gestärkte Grundversorgung ins Zentrum stellen – ohne gezielte öffentliche Investitionen in Sektoren wie Wohnen, Pflege und Energieversorgung bleibt die Gesellschaft strukturell verwundbar.

Strategische Autonomie

Die aktuelle Rohstoffpolitik, die auf der Annahme eines massiv steigenden Bedarfs an kritischen Rohstoffen basiert, erzeugt neue geopolitische Spannungen – sowohl global (Claar 2022; Vela Almeida et al. 2023) als auch innerhalb Europas (Lazarević 2024). Diese Spannungen und Konflikte um Ressourcennutzung und Extraktion werden sich voraussichtlich weiter zuspitzen.

  • Suffizienzstrategien sind zentrale Voraussetzung für echte Autonomie und Versorgungssicherheit. Sie können Europas Energiebedarf bis 2050 halbieren; die Abhängigkeit von kritischen Importen und riskanten Technologien (z. B. CCS) deutlich reduzieren; Kosten senken, indem energieintensive Infrastruktur vermieden wird (z. B. neue Gaskraftwerke, überdimensionierte Verkehrsnetze, redundante Energiesysteme); den Bedarf an potenziell nicht realisierbare Ausbaustufen von Stromnetzen und erneuerbaren Energien reduzieren (Wiese et al. 2024).

Beispiele:

  • Mehr öffentlicher Verkehr statt Autoproduktion
  • Mehr regionale Agrarökologie statt Fleischindustrie
  • Mehr Sanierung und Nutzung leerstehender Gebäude statt Neubau
  • Mehr Reparatur und Wiederverwendung statt Produktion neuer Konsumgüter

→ Strategische Autonomie setzt voraus, dass Nachfrage und Produktionsmuster suffizienzorientiert umgestaltet werden – das ist Grundlage für mehr geopolitische Freiheit. 

Beschleunigung des grünen Wandels

Der „Derisking“-Ansatz für privates Kapital ist zu langsam, um produktive Kapazitäten (z.B. Arbeitskraft, Energie- und Materialflüsse, Kapital) rasch und im notwendigen Ausmaß von profitablen, aber nicht-nachhaltigen Sektoren hin zu weniger profitablen, jedoch für soziale Sicherheit und ökologische Stabilität notwendigen Bereichen zu verlagern (Gabor & Braun 2025; Kedward et al. 2024).

Lösungsansatz: Kreditlenkung

  • Kapital gezielt in gesellschaftlich notwendige Sektoren lenken

Beispiele: 

  • China: strategische Investitionssteuerung (Di Leo et al. 2025)
  • Nachkriegsfrankreich: Rediskontpolitik, z.B. für Hochgeschwindigkeitszüge (Monnet 2018)
  • EZB: Klimabezogene Kreditsteuerung (2022–2023), Berücksichtigung klimabezogener Transitionsrisiken im neuen Sicherheitsrahmen → EZB braucht klare Sekundärmandate (z.B. Klima, Biodiversität, Beschäftigung) 

→ Die Umsteuerung von Investitionen in sozial-ökologisch notwendige Bereiche erfordert eine aktive Kreditlenkung und stärkere öffentliche Kontrolle über den Finanzsektor – marktbasierte Derisking-Ansätze allein sind zu langsam und zu selektiv.

Dr. Richard Bärnthaler ist Assistenzprofessor für ökologische Ökonomik am Sustainability Research Institute (SRI) der Universität Leeds, wo er die Forschungsgruppe Economics and Policy for Sustainability (Econopol) leitet. Er ist Vorstandsmitglied der European Society for Ecological Economics, Mitherausgeber der Fachzeitschrift Sustainability: Science, Practice and Policy und Leitautor des APCC Sachstandsberichts zum Klimawandel. Seine Forschung konzentriert sich auf die politische Ökonomie sozial-ökologischer Transformation.


18.09.2025