Von der Forstlichen Standortslehre zur Waldökologie

Im Foyer des Wilhelm-Exner-Hauses der Universität für Bodenkultur steht die Büste von Leopold Grabner  (1802 - 1864), Professor der Naturkunde an der k.k. Forstlehranstalt zu Mariabrunn, wirkliches Mitglied der k.k. Landwirtschafts-Gesellschaft in Wien und Gründungsmitglied des Österreichischen Forstvereins sowie der Österreichischen Vierteljahresschrift für Forstwesen. Ihm gebührt das Verdienst, 1838 mit seinem zweibändigen Buch "Anfangsgründe der Naturkunde für den Forstmann" jenes Fundament gelegt zu haben, auf dem die forstliche Standortlehre und die Waldökologie in Österreich aufbauen.
Versetzen wir uns in Grabners Zeit zurück: Von England aus hatte die Industrialisierung über Deutschland auch Österreich erreicht und ihr enormer Energie- und Rohstoffhunger drohte auch bei uns die Wälder zu erschöpfen und zu vernichten. In Deutschland, das von der Energiekrise und Waldverwüstung früher erreicht wurde, hatte man reagiert und große Anstrengungen unternommen, um die Wälder zu sanieren und eine nachhaltige Rohstoffbasis zu sichern. Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür wurden auf neu gegründeten Forstakademien und -fakultäten erarbeitet. Innerhalb kurzer Zeit entwickelten Vordenker der Forstwissenschaften wie Cotta, Pfeil und Hundeshagen ein theoretisches Gerüst, das die heutigen Forstwissenschaften noch immer zu tragen vermag. Obgleich damals die Produktion des verknappten Rohstoffes Holz im Vordergrund stand, wurden die Aufgaben der Forstwissenschaften umfassend gesehen. J. Ch. Hundeshagen umschreibt sie in seinem 1821 veröffentlichten Werk "Forstliche Produktionslehre" als "die wissenschaftlich geordneten Grundsätze zu einer, den zeitlichen und örtlichen Zwecken der Menschen möglichst angemessenen Behandlung der Wälder. Das Wort Behandlung ist hier im umfassenden Sinne, als Inbegriff alles Handelns gebraucht, was jenen Zwecken entspricht. Diese sind die entfernteren Ursachen von menschlichen Bedürfnissen und an sich sehr mannigfaltig, folglich nicht bloß auf Produktengewinnung gerichtet, denn die Wälder werden ja auch als Schutzmittel gegen Lawinen, Stürme und als Beförderungsmittel der Gesundheit benutzt."
Unter dem Einfluß von Rousseau und Goethe, aber auch unter dem Eindruck von Naturkatastrophen und Schädlingskalamitäten in planlos angelegten Forsten war die Forstwissenschaft in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bemüht, die in Wäldern wirkenden Naturgesetze zu erforschen, weil man zur Überzeugung gelangt war, daß erfolgreiche Forstwirtschaft nur im Einklang mit der Natur möglich sei. W. L. Pfeil (1783 -1859), erster Professor für Forstwissenschaften in Berlin-Eberswalde, stellte fest, daß vordem "... das Forstwesen entschieden dadurch zurückgebracht worden (sei), daß man sich gar nicht um die Örtlichkeit kümmerte, sondern ohne Rücksicht auf Boden und Klima, auf die inneren und äußeren Bedingungen, unter denen man wirthschaften mußte, immer gleiche Vorschriften für die Erziehung des Holzes und die ganze Wirthschaftsführung gab." Auf sein "Eisernes Gesetz des Standörtlichen" gehen alle Vorschriften über standortsgerechte Baumartenwahl und Waldbehandlung zurück. Auch der Zeigerwert der Bodenvegetation war bereits voll erkannt. J. Ch. Hundeshagen gibt 1830 in seinem Buch "Die Bodenkunde in land- und forstwirthschaftlicher Beziehung" jene Gewächse an, die "unter sonst gleichen Bedingungen des Standortes die Beschaffenheit des Erdreiches mehr oder weniger bestimmt charakterisieren, d.h. in ihrem natürlichen Vorkommen entweder nur allein auf die eine oder die andere Bodengattung beschränkt sind, ... In Folge dessen wurden hier denn auch vorzüglich die wilden Gewächse und namentlich die sogenannten 'Unkräuter' berücksichtigt, zudem sie den Charakter des Standortes meist bestimmter aussprechen, als die Kulturgewächse selbst ...".
In Österreich setzte sich Leopold Grabner vehement für eine nachhaltige, auf naturwissenschaftlichen Grundlagen fußende Forstwirtschaft ein. Im Vorwort zu "Grundzüge der Forstwirtschaftslehre" schreibt er 1841 "In einer Zeit, wo die Erzeugnisse des Waldes fortwährende Steigerung ihres Werthes erfahren, ... ; in einer Zeit, wo sich die Erfahrung nicht mehr von der Hand weisen läßt, daß der Wald durch sein bloßes Vorhandenseyn, durch seine physischen und klimatischen Wirkungen für Schutz, Befruchtung, Verschönerung ganzer Gegenden, örtlich die höchste Bedeutung erlange, ... : in einer solchen Zeit scheint es wohl gerechtfertigt zu seyn, ... , die Nachhaltigkeit der Nutzungen sichernde Grundsätze ins Leben treten zu lassen." Auch Grabner war davon überzeugt, daß sich nachhaltige Forstwirtschaft nur im Einklang mit der Natur verwirklichen ließe und maß den naturwissenschaftlichen Grundlagen höchste Bedeutung zu. In "Anfangsgründe der Naturkunde für den Forstmann" (1838) kann man lesen "Der Waldboden entsteht, wie schon erwähnt, durch Verwitterung mineralischer und Verwesung organischer Stoffe, und seine Wirkung bei der Vegetation ist deßhalb auch abhängig von der Natur und Beschaffenheit dieser Stoffe". Grabner hatte also bereits sehr klare Vorstellungen über bodenbildende Prozesse und über die Wechselwirkungen zwischen Boden und Vegetation.
Bedeutendster Vordenker der Waldökologie war aber ein zu seiner Zeit verkannter und heute zu unrecht vergessener Österreicher, nämlich Sigmund Hausegger (1806 - 1864), k.k. Forstbeamter, Kollege und Freund von Josef Ressel. Seine Aufsätze in der neugegründeten Österreichischen Vierteljahresschrift für Forstwesen, die er nur mit "S.H." zeichnete, weisen ihn als scharfen Naturbeobachter mit herausragenden analytischen Fähigkeiten aus. Viele seiner Thesen wurden später experimentell bewiesen und zählen heute zu den fundamentalen Lehrsätzen der terrestrischen Ökologie. Es ist österreichisches Entdeckerschicksal, daß kein einziger nach Hausegger benannt ist. Lange vor Ebermayer hat er die Bedeutung des äußeren Nährstoffkreislaufes erkannt und beschrieben. In einem Aufsatz über den Rückgang der Eichenwaldungen in Heft 3 der Österreichischen Vierteljahresschrift für Forstwesen aus dem Jahr 1853 können wir lesen "Es ist also gewiß, daß ein mit Pflanzen bewachsener Boden um denjenigen Theil seiner eigenthümlichen Pflanzennahrungsstoffe ärmer ist, welcher in den auf ihm stehenden Pflanzen enthalten ist. Bleiben die Pflanzen sich selbst überlassen, so verwesen sie, geben dem Boden was sie ihm entzogen haben wieder und zwar in einer der Vegetation günstigeren Form zurück. Der Boden verliert also nicht nur nichts, sondern er wird productiver. Nimmt man hingegen die Pflanzen, oder Theile derselben hinweg, so wird dem Boden das entzogen, was er zu ihrer Bildung hergegeben hat. Je öfter dies geschieht, desto ärmer an Nährstoffen muß er also bis zu jener Tiefe werden, bis zu welcher die Wurzeln reichen." Noch bemerkenswerter sind seine Aussagen zur Dynamik von Waldökosystemen. 1861, in einer Zeit, in der die Natur noch überwiegend statisch im Sinn von Linnaeus gesehen wurde (Linnaeus wollte die Ordnung der Schöpfung erkennen und beschreiben; Darwin hatte zwar 1859 das statische Weltbild mit "On the Origin of Species" in Frage gestellt, seine Ideen waren aber damals noch keinesfalls Allgemeingut) schrieb Hausegger in einem Aufsatz über intensive Forstwirtschaft und ihre Folgen "Wir wissen, daß es in der Natur keinen absoluten Stillstand gibt und auch keinen geben kann und können daraus schließen, daß auch die gedachten Prozesse im Boden keine Ausnahme von jenem Naturgesetze machen, daß sie also fortdauern werden. ... Nun drängen sich die Fragen auf, ... , ob die Bodengüte endlich ihren Kulminationspunkt erreiche, ob da Stillstand, oder unbedingt Rückschritt eintreten müsse "
Ich möchte damit meinen Ausflug in die Geschichte der forstlichen Standortslehre schließen. Ich habe diese Beispiele ausgewählt, weil sie zeigen, daß von den Anfängen an nicht statisches Katalogisieren, sondern Prozesse, Wechselwirkungen und dynamische Phänomene im Vordergrund des Interesses standen. Lange bevor Haeckel 1868 den Begriff der Ökologie prägte, haben Forstleute schon gesamthafte analytische Betrachtungen über den Haushalt der Natur angestellt und daraus Empfehlungen für die Behandlung der Wälder abgeleitet. Auch an der Universität für Bodenkultur haben alle Lehrstuhlinhaber der forstlichen Standortslehre von Breitenlohner über Lorenz-Liburnau, Leiningen-Westerburg und Hartmann bis zu Krapfenbauer wesentliche Beiträge zur Aufklärung des Stoffhaushaltes und der Dynamik von Wäldern geleistet. Man kann mit Fug und Recht - und wohl auch mit Stolz - behaupten, daß forstliche Standortslehre inhaltlich immer Waldökologie im heutigen Sinn des Begriffes war. Die Kluft zwischen den theoretischen biologischen Wissenschaften und den anwendungsorientierten Forstwissenschaften hat allerdings dazu geführt, daß vieles Wissen der Forstleute den Biologen verborgen blieb und daß manches, was in den ersten Lehrbüchern der Forstwissenschaften aus dem frühen 19. Jahrhundert bereits nachzulesen war, erst viel später von den klassischen Naturwissenschaften entdeckt und wissenschaftlich behandelt wurde.
Die Aufgabe der traditionellen Bezeichnung "Standortslehre" im Institutsnamen im Jahr 1973 war sicher kein leichter Schritt. Er war aber notwendig und überfällig, weil sich weltweit der Begriff Waldökologie (Forest Ecology) gegenüber dem nur in den deutschsprachigen Forstwissenschaften gebräuchlichen Begriff "Forstliche Standortslehre" durchgesetzt hat. 1958 hat Franz Hartmann mit seinem Buch "Forstökologie" diesen Weg vorgezeichnet, der umfassendere Begriff Waldökologie wurde dann 1991 gewählt, weil sich das Institut nicht nur mit Forsten sondern mit Wäldern im allgemeinen beschäftigt. Heute können wir sagen, daß die Entscheidung richtig war. Das Institut hat einen sicheren und anerkannten Platz in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft und konnte auch seine Wirkung in Politik und Gesellschaft wesentlich vergrößern. Die interessierte Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger können mit dem Begriff "Waldökologie" mehr anfangen als mit der nur Eingeweihten verständlichen Bezeichnung "Forstliche Standortslehre".