16.03.2021 - Zivil-militärische Ambivalenz in der Kerntechnologieentwicklung
Am 11. März jährte sich der schwere Reaktorunfall des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass lud das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) vergangene Woche internationale Expert*innen ein, um zu diskutieren, wie es mit der Kerntechnologienutzung weitergeht. Ein Tenor: Nuklearwaffen könnten Aufwind erfahren.
Bei der zweitägigen Veranstaltung ging es am ersten Tag um den Reaktorunfall in Fukushima, die Referent*innen des zweiten Tages richteten dann ihren Blick auf die zukünftigen Wirkungen und Auswirkungen dieses schweren kerntechnischen Unfalls. Der aktuelle Trend in der Kernenergienutzung gehe vor allem in die Richtung der Verlängerung der Lebenszeit von laufenden Kernkraftwerken über die ursprünglich geplante Laufzeit hinaus, resümierte Klaus Gufler (BOKU) in seinem Reality Check. Die wenigen Neubauprojekte in Europa würden massive Kostensteigerungen sowie Verzögerungen beim Bau erleben.
Aktuelle Subventionsmodelle und die problematische Rolle des EURATOM-Vertrags standen im Zentrum des Beitrags von Dörte Fouquet, Rechtsanwältin und Partnerin bei der Kanzlei Becker Bückner Held in München. Ihre Diagnose: „Es bedarf einer Reform des EURATOM-Vertrages.“ Unter anderem bestünde die besondere Notwendigkeit einer echten europäischen Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit und Aufsichtsbehörden, die die Kernkraftwerke sowie Zwischen- und Endlagerung im Rahmen eines einheitlichen Rechtsrahmens abdecken. Weiters gelte es, strenge Regeln zur vollsten Lebenszyklus-Verantwortung von Eigentümern oder ehemaligen Eigentümern von Kernkraftwerken nach dem Verursacher-Prinzip festzulegen.
Gemischte Motivlagen in der Kernenergieforschung
Christoph Pistner, Leiter der Abteilung Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut Darmstadt, Mitglied der Reaktorsicherheitskommission im deutschen Bundesministerium und Vorstandsmitglied der Forschungsvereinigung FONAS, präsentierte die Ergebnisse seines brandaktuellen Gutachtens über kleine modulare Reaktoren. Small modular Reactors (SMR) der sogenannten vierten Generation (Gen IV) sind technologische Hoffnungsträger. Sie haben pro Reaktor ein geringeres, radioaktives Inventar, das bei Unfällen freigesetzt wird. Auch wolle man bei deren Entwicklung eine höhere Sicherheit realisieren. Sein Resümee: Man würde zehntausende SMRs benötigen, nur um den heutigen Stand der Kernenergieproduktion zu reproduzieren. Eine Kostenreduktion durch die Modularität müsse jedoch massiv in Zweifel gezogen werden, ebenso die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit mit anderen Energiebereitstellungstechnologien. Gewisse Sicherheitsvorteile seien bei einigen Systemen zwar denkbar, diese würden jedoch durch die zu erwartenden Nachteile und die vielen Standorte konterkariert. „Hinsichtlich Nuklearwaffen kann man auch eine gemischte Motivlage vermuten“, so Pistner.
Sorgen angesichts der zivil-militärische Ambivalenz
Kernwaffen sind in den letzten Jahren durch den USA-Nordkorea-Konflikt wieder vermehrt in den Fokus gerückt. Kürzlich gab es an das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften (ISR) der BOKU auch wieder eine Anfrage nach Berechnung des Quellterms von Kernwaffen-Explosionen. Historisch gesehen baut ja die Kernenergienutzung auch auf den technologischen Entwicklungen der ersten Atomwaffenprogramme auf. „Die Fortentwicklung der Atomwaffen-Technologie hat es ermöglicht, zur zivilen Nutzung der Kernenergie überzugehen. Allerding sind die dort verwendeten Technologien und Materialien dann auch wiederum Quellen, technische Optionen für Kernwaffenprogramme bereit zu stellen – eine militärisch-zivile Ambivalenz“, betonte Wolfgang Liebert. Er ist Leiter des ISR und konzentriert sich in seiner interdisziplinären Arbeit auf die Risiko- und Technologieeffektforschung der Nukleartechnologie, der Energiewende-Technologien und der modernen Biotechnologie. Erst vor wenigen Wochen ist der Kernwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten, der jedoch das Problem der militärisch-zivilen Ambivalenz gar nicht anrührt. „Wenn wir den Weg in eine kernwaffenfreie Welt gut beschreiten wollen, brauchen wir einen Vertrag, der viel weiter geht. Die zivil-militärische Ambivalenz macht daher weiterhin Sorgen, auch angesichts möglicher weiterer Staaten, die gerade dabei sind, Kernenergieprogramme aufzulegen“, so Liebert.
Kontakt
Univ. Prof. DI Dr. Wolfgang Liebert
Universität für Bodenkultur Wien
Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften
Email: liebert(at)boku.ac.at
Telefon: +43 1 47654-81801, 81814
Klaus Gufler, B.A.
Universität für Bodenkultur Wien
Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften
Email: klaus.gufler(at)boku.ac.at
Telefon: +43 1 47654-81817