„Mobility-Activity-Expenditure Diary (MAED)“: Institut für Verkehrswesen der BOKU verknüpft Erhebungsdaten zu Veränderungen der Mobilität mit Aktivitätsmustern und Wohlbefinden während des ersten Lockdowns. Abstriche wurden vor allem bei der Körperpflege

Die COVID-Maßnahmen haben zu erheblichen Einschränkungen der Mobilität und Änderungen in den Aktivitätsmustern geführt. Wie sich das konkret auf unseren Alltag und unser Wohlbefinden ausgewirkt hat, hat das Institut für Verkehrswesen der Universität für Bodenkultur Wien erhoben und ausgewertet. Astrid Gühnemann, die Leiterin des Instituts: „Es liegen zwar Untersuchungen zu Auswirkungen der Pandemie auf das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsmittelwahl vor, aber der Zusammenhang zwischen den Veränderungen in der Mobilität und den Aktivitäten der Menschen sowie den Orten, wo diese Aktivitäten stattfinden, war bisher weitgehend unbekannt, ebenso wie sich das auf das Gesundheitsempfinden auswirkt."

Das Institut für Verkehrswesen der BOKU analysiert seit Jahren das Mobilitätsverhalten im Alltag, um nachhaltige Verkehrslösungen zielgerecht entwickeln zu können. Unter anderem wurde ein Verfahren zur umfassenden und gleichzeitigen Erhebung des Mobilitätsverhaltens, der Zeitnutzung und sämtlicher Konsumausgaben entwickelt, das so genannte „Mobility-Activity-Expenditure Diary“ (MAED). Dabei wird eine größere Gruppe von repräsentativ ausgewählten Personen über einen kompletten Wochenzyklus zu den genannten Aspekten befragt. Eine solche Erhebung wurde auch vor und während des ersten Lockdowns in Kombination mit der Konsumerhebung der Statistik Austria sowie mit Unterstützung von Wirtschaftsuniversität Wien, Fonds Gesundes Österreich und Austrian Energy Agency durchgeführt. Mobilitätsverhaltensforscher und Projektleiter Reinhard Hössinger: „Das Alltagsverhalten ist ein sehr feiner Gradmesser für gesellschaftliche Veränderungen, und auch der implizite Wert, den Zeit und Geld für die Menschen besitzen, ist hier klarer erkennbar als irgendwo sonst. Um einen Vergleich zu bringen: Im beschlossenen Budget einer Regierung zeigt sich der politische Wille besser als in allen Sonntagsreden.“

Datenschatz dank Lockdown

Die COVID-Krise habe sein Team mitten in einer MAED-Erhebung erwischt: Eine Erhebungswelle war gerade abgeschlossen, eine zweite sollte folgen, da kam der Lockdown. „Wir haben kurz überlegt, ob wir abbrechen sollen, auch wegen des Risikos für das Erhebungsteam, haben uns dann aber zum Glück dafür entschieden, weitgehend auf online-Kommunikation umzustellen. Und jetzt sitzen wir auf einem wahren Schatz an Daten: eine umfassende Erhebung, in zwei Wellen durchgeführt, eine direkt vor der COVID-Krise im Herbst 2019, die zweite genau während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Es gibt vermutlich weltweit keine derart umfassende Vergleichsstudie, weil niemand mit dieser Krise gerechnet hat und die vielen Studien, die dann folgten, die Vorher-Situation nicht haben. Wegen der Einmaligkeit dieser Daten, werden die Ergebnisse dieses Mal nicht nur in wissenschaftlichen Journalen publiziert, sondern auch auf einer allgemein zugänglichen Website.“

Alle untersuchten Bereiche waren von der COVID-Krise in irgendeiner Form betroffen. Hössinger: „Der massivste Effekt ist der Rückgang in der Mobilität, aber das war keine Überraschung, den haben wir alle beobachtet. In unseren Daten ist die Mobilitätsnachfrage um 36% eingebrochen, aber die einzelnen Verkehrsmittel waren sehr unterschiedlich betroffen. Der öffentliche Verkehr hat über 60% verloren, die Fahrrad- und Scooter-Fahrten haben dagegen trotz des allgemeinen Rückganges zugenommen. Auch andere Effekte waren erwartbar, etwa der Rückgang in der Zahl der Verkehrstoten, die Verschiebungen im Zeitbudget von der Erwerbsarbeit hin zu mehr Haushaltsarbeit und Freizeit, sowie die Verlagerung von außer Haus-Tätigkeiten nach Hause. Hier war die Frage eigentlich nur, wie stark diese Effekte im Einzelnen sein würden, das kann man nun auf unserer Website nachlesen.“

Bei Körperpflege gespart

Es folgte aber nicht alles den erwarteten Bahnen. Hössinger: „Am meisten überrascht hat mich der starke Rückgang in der Zeit für persönliche Tätigkeiten, womit hauptsächlich die Körperpflege gemeint ist. Dafür wurden nach dem Lockdown im Schnitt um 25 Minuten weniger pro Tag aufgewendet.“ Eine genauere Analyse hat dann den leisen Verdacht bestätigt: Der Rückgang ist sehr stark an den Rückgang in der Mobilität gekoppelt. „In dem Ausmaß, in dem Leute seltener aus dem Haus gegangen sind, haben sie auch die Körperpflege nicht mehr so genau genommen.“

Interessant ist auch die starke Zunahme von Sekundäraktivitäten, die während einer Hauptaktivität zusätzlich verrichtet werden, etwa während der Arbeit oder in der Freizeit. Die Erklärung geht in zwei Richtungen, die sich durchaus ergänzen: einerseits die Verlagerung von Tätigkeiten nach Hause, wo es mehr Gelegenheiten und wohl auch Bedarf für Multitasking gab, z.B. Kinderbetreuung; andererseits die stark zunehmende Computerarbeit, die das Multitasking ebenfalls fördert. „Das kennt vermutlich fast jede*r von sich selbst. Ob das eine positive Entwicklung ist, weiß ich nicht“, gibt Hössinger zu bedenken, „sicher ist aber, dass uns das Homeoffice und damit das Multitasking auch nach COVID erhalten bleiben wird.“

Die Nutzung digitaler Tools hat übrigens nicht nur zu Hause, sondern auch unterwegs zugenommen. Das betrifft einerseits die Online-Tickets, sie wurden während des Lockdowns von den ÖV-Betreibern bewusst wegen der Kontaktvermeidung forciert. Aber auch Routenplaner wurden häufiger verwendet. Dies deutet darauf hin, dass die Menschen öfter als sonst ihre Routinen verlassen und Neues probiert haben oder probieren mussten: neue Ziele, andere Verkehrsmittel. Diese Beispiele zeigen einmal mehr, dass die Welt durch die COVID-Krise in jeder Hinsicht digitaler geworden ist.

Erster Lockdown nicht nur als negativ empfunden

„Überraschend war für mich auch, dass die gesundheitlichen Auswirkungen des ersten Lockdowns keineswegs nur negativ waren“, betont Hössinger. „Mit der zunehmenden Dauer der Krise und den weiteren Lockdowns im Herbst und Winter haben die negativen Folgen überhandgenommen, weil es gerade bei der Gesundheit auch darum geht, wie lang so ein Ausnahmezustand dauert. Am Anfang reißt man sich noch zusammen oder es hat sogar den Reiz des Neuen, aber dann wird es mühsam“. In der der frühen Phase war die Situation weniger eindeutig. Hössinger: „Nur wenige sind direkt arbeitslos geworden, und eine vorübergehende Verringerung der Stundenzahl wurde nicht immer negativ gesehen. Der Tag hat weiterhin 24 Stunden, es bleibt mehr Zeit für anderes, Freizeit oder für überfällige Arbeiten in der Wohnung. Auch der Rückgang in der körperlichen Aktivität während der Arbeit wurde kompensiert, die Leute haben mehr Krafttraining betrieben und sind mehr Fahrrad gefahren.

Weitere Erhebung im kommenden Herbst

Wie geht es weiter? „Wir bleiben an diesem Thema dran“, betont Hössinger. „Für den Herbst ist eine weitere Erhebungswelle geplant, wobei wir, so wie alle, hoffen, dass wir dann keine neue COVID-Welle haben. Unser Ziel ist es zu beobachten, welche der Verhaltensänderungen, die wir während des Lockdowns gesehen haben, auch nach der Wieder-Öffnung erhalten bleiben, also von den Menschen verinnerlicht und zur neuen Routine geworden sind.

Institutsleiterin Astrid Gühnemann abschließend: „Die Erkenntnisse, die wir aus unseren Analysen gewinnen, sollen zu einem besseren Verständnis der Wirkungen der COVID-bedingten Maßnahmen auf die Bevölkerung beitragen und Grundlagen für eine faktenbasierte Diskussion auch für die Bewältigung zukünftiger vergleichbarer Situationen legen. Auch wenn wir natürlich hoffen, dass diese ausbleiben.“

COVID-Website des Instituts für Verkehrswesen: http://ive.boku.ac.at/covid/

Kontakt:
Mag. Dr. Reinhard Hössinger
Institut für Verkehrswesen
Universität für Bodenkultur Wien
r.hoessinger(at)boku.ac.at
Tel.: 01 47654 85631